Hans Magnus Enzensberger, geb. 1929, lebt München

Hans Magnus Enzensberger, geb. 1929, lebt München

Neulich in der Spielbank (oder war es auf dem Jahrestreffen der Finanzberater?) gab es mal wieder diesen todsicheren Tipp: Jede Serie geht mal zu Ende; auf viele rote Zahlen muss irgendwann Schwarz folgen, das sage nicht nur der gesunde Menschenverstand, sondern auch die Mathematik. Und je länger die Pechsträhne, je größer die Krise, umso höher die Chancen, dass es endlich wieder bergauf gehe, ergo: umso fetter der Gewinn.

 

Leider versagt bei solchen Erwägungen nicht nur der Common Sense, sondern auch das mathematische Verständnis der meisten Zocker. Denn aus einer statistischen Wahrscheinlichkeit lässt sich eben noch lange keine Aussage über den praktischen Einzelfall ableiten. Was, wenn die Roulettescheibe unrund läuft, der Trend sich nicht fortschreiben lässt, die Aktien fallen, statt zu steigen, und ganze Banken zusammenbrechen?

 
Wenn dann der große Katzenjammer ausbricht, mag mancher die Statistik verfluchen. Dabei hat er nur die erste Regel der Wahrscheinlichkeitsrechnung gelernt: Ein Durchschnittswert sagt nichts über das tatsächliche Eintreten eines Ereignisses aus. Denn selbst unwahrscheinliche Optionen, jene, die am Rand der statistischen Normalverteilung liegen, können Realität werden. Und naturgemäß sind es gerade solche unvorhergesehenen »Ausrutscher«, die – siehe Finanzkrise – unser Leben am stärksten beeinflussen.

Dass dieses Drama nicht nur Stoff für Statistiker, sondern auch für Dichter abgibt, liegt auf der Hand. Und wer wäre besser geeignet, ihn aufzuarbeiten, als der Mathematikliebhaber und Deutungskünstler Hans Magnus Enzensberger, der die scheinbare Grenze zwischen Wissenschaft und Poesie immer wieder souverän ignoriert? Schon in Mausoleum , den 37 Balladen aus der Geschichte des Fortschritts, hat er das poetische Potenzial der angeblich harten Naturwissenschaften erkannt und in seinem Band Die Elixiere der Wissenschaft den scheinbaren Gegensatz zwischen Fachgelehrten und Schöngeistern endgültig für obsolet erklärt: »Der idiot savant und der idiot lettré sind einander ähnlicher, als sie ahnen.«

 

Nun also widmet er sich, passend zum Crash des globalen Finanzkasinos und zu der Sprengung diverser Hausbanken, dem Verhältnis von Fortuna und Kalkül , genauer: den Grundlagen der Wahrscheinlichkeitstheorie und den »metaphysischen Mucken der Mathematik«. Das kleine, gerade mal 70 Seiten starke Bändchen entstand aus zwei Vorträgen zum Thema und erscheint nun in der edition unseld, die sich, ganz im Sinne Enzensbergers, dem Dialog zwischen Geistes- und Naturwissenschaften verschrieben hat.

 

Doch was heißt schon Geistes-, was Naturwissenschaft? Bereits die theoretische Physik wird mehr vom Glauben an die Symmetrie und die logische Schönheit der Naturgesetze angetrieben als von ihrer technischen Verwertbarkeit. Und erst die Mathematik, die reinste aller Geisteswissenschaften! »Eine Gleichung bedeutet für mich nur dann etwas, wenn sie einen Gedanken Gottes ausdrückt«, zitiert Enzensberger den indischen Zahlentheoretiker Srinivasa Ramanujan und wundert sich – wie viele große Mathematiker – darüber, dass die Erkenntnisse dieser Wissenschaft so alltagstauglich sind, »obwohl sie ganz ohne Rücksicht auf mögliche Anwendungen entwickelt worden sind«.

 

Dieser Aspekt ist es vermutlich auch, der den multitalentierten Dichter HME so fasziniert. Schon sein Zahlenteufel war ja eine Liebeserklärung an die Kunst des mathematischen Denkens, und dass er für seine Vermittlungsbemühungen von der Deutschen Mathematiker-Vereinigung mit einem Medienpreis geehrt wurde, war nur folgerichtig. Seither darf er sich – wohl als einziger Poet weltweit – als Namensgeber eines mathematischen Gebildes rühmen, der »Enzensbergerfläche«.

 

Auch in Fortuna und Kalkül erweist sich der Schriftsteller (der auch einen hervorragenden Wissenschaftsjournalisten abgegeben hätte) als Kenner seines Sujets, als Amateur im besten Sinne, der Liebhaberei mit Sachkunde verbindet. Er erzählt von dem Glücks- und Falschspieler Girolamo Cardano, der mit seiner Abhandlung De luda aleae 1663 die Wahrscheinlichkeitstheorie begründete, erklärt plastisch die klassische Normalverteilung (»Wenn man zum Beispiel die Körpergröße möglichst vieler Leute mißt, stellt sich bald heraus, daß es verhältnismäßig wenig Riesen und Zwerge gibt. Beim Mittelwert erreicht die Kurve ihr Maximum. Das ist gut zu wissen, wenn man ein Schuhfabrikant ist«) und beweist schließlich mit der italienischen Philosophin Elena Esposito, dass es sich bei prognostischen Aussagen, die auf Wahrscheinlichkeitskalkülen beruhen, grundsätzlich um Fiktionen handele. »Zukünftige Ereignisse treten nämlich nicht zu neun oder 99 Prozent, sondern entweder ganz oder gar nicht ein.«

 

Natürlich blitzt an allen Ecken und Enden der typisch Enzensbergersche Witz durch, seine elegante, mitunter schneidende Ironie, die ihn stets über seinen Gegenstand zu erheben scheint. Etwa, wenn er nebenbei die »Goldbachsche Vermutung« aus dem Jahr 1742 erklärt: »Sie ist für alle Werte bis zu einer Größenordnung von 1018 verifiziert, aber ebenso wie die Lehre von der Unbefleckten Empfängnis weder bewiesen noch widerlegt worden.« Oder wenn er den verbreiteten Glauben an die Kraft von Wahrscheinlichkeitsprognosen mit der Überlegung zurechtrückt, dass, rein statistisch gesehen, »Personen wie Christus oder Mozart, wie Hitler und Stalin äußerst selten vorkommen« und daher in der Logik der Normalverteilung eigentlich zu vernachlässigen wären. »Das wäre natürlich schade; denn so käme weder das Christentum noch die klassische Musik in der Prognose vor, andererseits aber auch nicht das Regime der Nationalsozialisten oder der Stalinismus.«

 

So mokiert sich der Dichter, der im Untertitel Zwei mathematische Belustigungen verspricht, über die Mühen der Wahrscheinlichkeitstheoretiker und jene der »Klatschbasen der Statistik«, der Marktforscher und Demoskopen.

 

Nur selten offenbart er dabei seine eigenen Unsicherheiten in der tiefgründigen Materie, etwa wenn er zugibt: »Unsereiner muß vor der Axiomatisierung der Theorie durch Kolmogorov ebenso kapitulieren wie vor der Chernoff-Ungleichung, mit der sich die Stochastiker amüsieren.« Und gänzlich verweigert er die Antwort auf die eigentlich entscheidende Frage, die sich in Zeiten des Klimawandels oder der Bedrohung neuartiger Grippeviren stellt: Wie gehen wir mit der Unsicherheit von Wahrscheinlichkeitsprognosen um, wenn sie möglicherweise menschheitsbedrohende Krisen betreffen?

 

Welchen Wert weisen wir den statistischen Aussagen der Klimamodellierer oder Epidemiologen zu, die bekanntermaßen fehlbar, aber dennoch das einzige Mittel sind, sich auf die Zukunft einzustellen?

 

Da hilft uns leider auch Enzensbergers Rat nicht weiter, dass sich unser Glück allem Kalkül entziehe und dass »alles, was uns übrigbleibt«, die Chance sei, den rechten Moment abzupassen, »Kairos ab und zu beim Schopf zu fassen«. Doch diese Kritik soll das Vergnügen an diesem geistreichen Bändchen nicht schmälern. Man darf es vielen ans Herz legen: Mathematikern, welche die hohe Kunst der populären Vermittlung lernen wollen, ebenso wie den Verächtern der Wissenschaft, die sich vom poetischen Reiz der puren Ratio überzeugen können.