© Michael Setzpfandt
Die letzte Station von alten, ausgedienten Pferden oder aus der Mode gekommenen Hunden ist, wenn sie Glück haben, nicht der Schlachthof oder die Autobahnraststätte, sondern der Gnadenhof. Dort können sie mit anderen Artgenossen ihren Lebensabend verbringen und in alten Zeiten schwelgen: Damals, als sie noch gebraucht und bewundert wurden als Turnierpferd oder Show-Wau-Wau.
Dass Buchstaben das gleiche Schicksal ereilen kann, klingt
zunächst irritierend. Doch was passiert mit dem in Schreibschrift
geschwungenen und mit Neonröhren besetzten Schriftzug Schuhe,
der seit den fünfziger Jahren seinen Dienst über dem Schuhladen an der
Ecke leistet, nachdem sein Besitzer zum letzten Mal die Tür für seine
Kunden aufschließt? Und wohin sollen H, A, U und P, wenn aus dem Berliner HAUPTbahnhof der OSTbahnhof wird, ihnen also ihr Job von O und S gestohlen wurde?
Seit 2005 kümmern sich die beiden Berlinerinnen Barbara Dechant und Anja Schulze um solche Fälle: Ihr gemeinnütziger Verein Buchstabenmuseum e. V. betreibt zurzeit in der Leipziger Straße in Berlin Mitte ein Schaudepot – ein Lager für ihre mittlerweile über 300 ABC-Schützlinge, das regelmäßig für Besucher offen steht.
"Es ist die Liebe zur Typografie. Ich habe schon immer
Buchstaben gesammelt", sagt die Kommunikationsdesignerin Barbara
Dechant. "Wenn wir Schriftzüge oder auch nur einzelne Buchstaben
entdecken, die nicht mehr gebraucht werden, kontaktieren wir deren
Besitzer. Nach kurzer Verwunderung ist die Reaktion meist sehr positiv.
Die Leute freuen sich, wenn ihre Ladenbeschriftung nicht auf dem Müll
landet, sondern in Ehren gehalten wird."
Dechant und Schulze organisieren dann den Transport ins
Schaudepot; manchmal keine leichte logistische Aufgabe: Bis zu 2,5
Meter hohe und 10 Meter lange ABC-Riesen stehen im Lager. DeTeWe,
die selbst leuchtende Abkürzung der Deutschen Telephonwerke aus Metall
zum Beispiel. Daneben die 40 Kilo schwere Typografie von Autoradio Blaupunkt in Helvetica Medium Italic oder der verchromte Daimler Chrysler-Schriftzug
von einer Automesse in Paris, der nicht mehr gebraucht wird, weil
Daimler Chrysler nicht mehr Daimler Chrysler heißt.
Ein Schriftzug, der Dechant und Schulze momentan besonders am Herzen liegt, ist der des Aquarium- und Zoohandels Zierfische.
Der Laden am Frankfurter Tor in Berlin Friedrichshain ist Anfang des
Jahres Pleite gegangen. Bedauert wird nicht nur die Auflösung des
Geschäfts, sondern auch, dass der lieb gewonnene Schriftzug in
Verbindung mit den Bildern von drei Fischen und Seegras Platz machen
musste für einen neuen Laden und einen neuen Namen.
"Das ist teilweise eine ganz emotionale Sache", sagt Dechant, die selbst in der Nachbarschaft wohnt. "Ein Nachbar fragte mich: ‚Was soll ich denn jetzt sagen, wo ich wohne? Ich habe immer gesagt: Ich wohne über den Zierfischen.'" Und so schwingen in jedem einzelnen Buchstaben, den man im Lager des Buchstabenmuseums sehen kann, nicht nur ein Stück Firmengeschichte, Typografiegeschichte oder Kulturgeschichte mit, sondern auch persönliche Geschichten, Anekdoten und Verbundenheiten.
Der Schriftzug der Zierfische ist übrigens der erste, den Dechant und Schulze nicht umsonst bekommen konnten. Da sie über kein Ankaufsbudget verfügen, haben sie zu Spenden aufgerufen. "Rettet die Zierfische" heißt es nun auf der Website des Buchstabenmuseums und sogar mit einer Patenschaft kann man helfen, den legendären Schriftzug zu bewahren.
"Meist bemerkt man erst, wie sehr man sich an etwas gewöhnt
hat, wenn es nicht mehr da ist", sagt Dechant. "Durch die zunehmende
Vereinheitlichung des Stadtbildes verschwinden handwerklich hochwertige
Schriftzüge, Zeichen und Schilder aus dem öffentlichen Raum" Das Bild
unserer Fußgängerzonen wird immer mehr dominiert von großen Ketten.
Werden wir bald nur noch die Logos von H&M, Starbucks und Co. um
uns herum haben?
Das Interesse der Öffentlichkeit an den Buchstaben ist groß,
das Lager platzt fast aus allen Nähten, und die Öffnung des Schaudepots
für Besucher an jedem zweiten Samstag im Monat reicht nicht mehr aus.
Deshalb soll nun ein Museum her. "Geplant ist ein Museum im
traditionellen Sinn mit unkonventionellen Präsentationen", sagen
Dechant und Schulze, die gerade auf der Suche nach der passenden
Immobilie sind.
"Unsere Buchstaben werden gemütlich im Museum herumstehen und wir werden sie teilweise auch wieder zum Leuchten bringen", plant Dechant. Dort können sie dann in aller Ruhe mit anderen Artgenossen ihren Lebensabend verbringen und in Erinnerungen an die alten Zeiten schwelgen: Damals, als sie noch strahlten und gebraucht und bewundert wurden als Wegweiser oder Namensgeber.
© Michael Setzpfandt Schaudepot Buchstabenmuseum, Leipziger Straße 49
, 10117 Berlin. Nächste Öffnung:Samstag, 08.08.09, 13-15h